zu gerne. Ich sehe es jeden Tag als neue Herausforderung und Bereicherung an, mit schwierigen Charakteren umzugehen.“ Brennpunkt Notaufnahme Victoria Kerl hat für das Gespräch mit dem dbb magazin auf Schlaf verzichtet. Nein, nicht auf ihren kleinen Powernap am Nachmittag, sondern auf den Ersatz für die Nachtruhe, den sie während ihrer Nachtschichtwochen braucht. Das Thema ist der Medizinischen Fachangestellten, die in der Universitätsklinik Göttingen arbeitet, wichtig, denn verbale Attacken gehören zu Kerls Arbeitsalltag in der Anmeldung der Notaufnahme: „Die Patientin, die nach mehreren Tagen mit Bauschmerzen abends zu uns kommt, ist unzufrieden mit der langen Wartezeit und fängt an zu beleidigen“, schildert sie einen der zahlreichen Vorfälle. „Dass im Hintergrund drei Patienten parallel wiederbelebt werden müssen, versteht die Dame nicht.“ Immerhin ist sie möglichen Attacken nicht direkt ausgesetzt, denn in der Anmeldung sitzt sie in einer Kabine, geschützt von einer stabilen Glasscheibe. „Es gibt in der Uniklinik Notknöpfe und einen hauseigenen Sicherheitsdienst, der gerufen werden kann, denn in den Behandlungsräumen bleibt es manchmal nicht bei Beleidigungen, es kommt immer wieder zu Handgreiflichkeiten“, erzählt die junge Frau. Wie in anderen Notaufnahmen auch, triagieren die Kolleginnen und Kollegen in Göttingen. Behandelt wird nach medizinischer Notwendigkeit, nicht nach Reihenfolge der Ankunft. Wer umgehend Hilfe braucht, muss sie so schnell wie möglich erhalten. Wer mit Beschwerden kommt, die auch der Hausarzt hätte versorgen können, muss warten. Laien verstehen oder akzeptieren diesen Zusammenhang oft nicht. Auch Victoria Kerls Kolleginnen und Kollegen in der Behandlung erzählen so einiges: „Wer schon bei der Aufnahme pöbelt, gibt dann meist auch keine Ruhe, wenn er dran ist. Schwierig können auch Patienten sein, die glauben, falsch behandelt zu werden.“ Als weiteres Problem kommt in der Uniklinik hinzu, dass die Räumlichkeiten der Notaufnahme beengt sind. Gerade wird ein Neubau errichtet. Um sich emotional zu entlasten, nutzt Victoria Kerl die relativ lange Fahrzeit nach Hause. Die gibt ihr „Gelegenheit, auf Abstand zu gehen“. Es gebe im Haus außerdem ein Angebot für Psychotherapie, erzählt Kerl weiter, „und mit den Stationsleitungen des Hauses können wir reden, auch das ist wichtig“. Wie überall im Gesundheitsbereich ist die Arbeitsbelastung für das Personal in der Uniklinik Göttingen hoch, die Notaufnahme ist ein Brennpunkt. Was Kerl sich wünscht, sind „Patienten, die nicht wegen jeder Kleinigkeit zu uns kommen. Um die Sicherheit zu erhöhen, hätten wir gerne wieder Sicherheitspersonal am Eingang, das aus Kostengründen eingespart worden ist. Es ist nämlich so, dass nachts jeder, wie er möchte, über die Notaufnahme ins Haus kommen kann.“ Ein weiterer Unsicherheitsfaktor: Grundsätzlich müsse eigentlich mehr Personal da sein, „unsere Kapazität ist schnell erschöpft. Wir haben immer offene Stellen zu besetzen, denn Pflegekräfte, Ärztinnen und Ärzte gibt es eben zu wenig.“ Eigentlich arbeitet Victoria Kerl gerne in der Notaufnahme, mag ihr Team, die Ärzte und Chefs der Abteilung. Trotzdem bewirbt sie sich nach drei Jahren weg: „Ich will aus dem Dreischichtdienst raus.“ Zugbegleiter am Limit Er ist seit 38 Jahren im Dienst: René Bäselt hat als Zugchef im ICE der Deutschen Bahn AG unzählige Kilometer quer durch die ganze Republik zurückgelegt. Der gebürtige Berliner hat 1987 seine Lehre begonnen und ab 1990 zunächst als Schaffner für die Bahn gearbeitet. Was das Gewaltpotenzial betrifft, empfindet er den Arbeitsalltag als Chef einer Besatzung im Intercity Express zwar als ruhiger als beispielsweise im Regionalzug. „Mit Ausrastern, Pöbeleien und tätlichen Angriffen bekommen wir es aber auch hier zu tun“, erzählt der Eisenbahner. Übergriffe haben vor allem seit der Coronazeit spürbar zugenommen, sagt er. Die krisengeplagte Zeit gehe an vielen Menschen nicht spurlos vorüber. „Dann wird ein Anschluss verpasst oder sogar ein Flug, und schon liegen die Nerven blank. Bei manchen führt das zur lauten Beleidigung, manche langen aber auch zu.“ Sein heftigstes Erlebnis lag jedoch vor der Pandemie: „2017 habe ich einen arabischstämmigen Mitbürger ohne Fahrschein im ICE angetroffen. Nachdem er sich zunächst auf eine Bordtoilette geflüchtet hatte, habe ich ihn erfolgreich überredet, herauszukommen. Zunächst zeigt er sich einsichtig, wir stehen ganz ruhig im Gang.“ Dann aber sieht der Mann im nächsten Bahnhof eine Polizeistreife auf dem Bahnsteig. „Das muss etwas ausgelöst haben. Er greift mich unvermittelt an und schafft es, mir einen Arm schmerzhaft auf den Rücken zu drehen.“ Ein anderer, ebenfalls arabischstämmiger Fahrgast bekommt das mit und schreitet beherzt ein. „Erst mit seiner Hilfe kann ich mich befreien. Wir überwältigen den Angreifer und übergeben ihn der Polizei. Ich habe mir dabei das Handgelenk verstaucht. Von der Anzeige habe ich übrigens bis heute nichts gehört.“ Wenn jemand Sachen durch die Gegend schmeißt, hat das strafrechtlich in der Regel keine Konsequenzen. Stephanie Rau © Privat 20 FOKUS vbob Magazin | dbb seiten | April 2025
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